Demut, Respekt und grosser Kampfgeist
Rothrist Krū Aurelio unterrichtet Kampfsport in alter traditioneller Weise
Dröhnende Beats, schrille Pfeiftöne – Das Training für die Kampfsportlerinnen und Kampfsportler ist in vollem Gange. Das Training ist hart, auf dem Programm steht an diesem Morgen ein Explosivkraft- und Kraftausdauer-Circuit. Die zehn verschiedenen Posten verlangen viel ab, die Regenerationszeit von 10 bis 15 Sekunden dazwischen ist wenig. Das Training ist so hart wie die Beats, die durch die Halle dröhnen. Aber von nichts kommt nichts und die nächsten Meisterschaften stehen an. Mitten unter ihnen absolviert Amélie Parel das Wettkampftraining. Neben ihr trainiert der neunjährige Kaplan Dagli aus Strengelbach. Aurelios Schützling erreichte an der Weltmeisterschaft den hervorragenden dritten Platz.
Das Training findet diesmal beim Verein Raion Dojo in Wangen an der Aare statt. «Wir arbeiten zusammen, was enorm wertvoll ist», erzählt Parel. «Wir profitieren gegenseitig von dem Wissen und den Techniken.» Mit der Gründung seiner Schule in Rothrist im August 2020 wollte er auf keinen Fall eine Konkurrenz darstellen.
Bei den Olympischen Spielen sind verschiedene Kategorien vertreten. Genauso verhält es sich bei den Kampfsportarten. Die Kampfsportorganisation ISKA (International Sport Karate / Kickboxing Association) wurde in den 80er Jahren gegründet und das «K» steht nicht mehr nur für Karate, sondern für viele Kampfsportarten. Die ISKA führt Wettkämpfe und die Weltmeisterschaft durch. Dadurch ist es auch möglich, sich in verschiedenen Kategorien zum Kampf anzumelden. Somit erhöhen sich die Chancen auf einen oder mehrere Titel. Amélie trat an der Weltmeisterschaft in Rom in Muay Thai und K-1 an – und holte sich den WM-Titel im Muay Thai. Leicht hatte es die 13-jährige im Oktober sicher nicht. Denn ausschlaggebend ist das Gewicht. Mit ihrem aktuellen Kampfgewicht von knapp 50kg trat sie gegen Gegnerinnen an, die zwei bis sogar vier Jahre älter waren.
Vater und Coach in einem
Dass Vater und Tochter gemeinsam trainieren können, ist eine schöne Verbindung. Noch schöner: Amélie wollte unbedingt den Kampfsport erlernen und ist hart im Nehmen. Ein technisches K.O., einige Verletzungen der Nase – die Schülerin nimmts mit Gelassenheit und aufgeben käme für sie nie in Frage. «Als Coach weiss ich natürlich, dass Verletzungen dazugehören. Aber als Vater frage ich mich manchmal schon, ob ich das nicht unterbinden müsste», so Aurelio. «Ich hatte schon viele schlaflose Nächte, während meine Tochter seelenruhig schlief. Aber Amélie hat einen unbändigen Willen. Sie ist nicht von dieser Welt.»
Obwohl der 42-jährige über 27 Jahre Kampfsporterfahrung verfügt, etliche nationale Wettkämpfe bestritten, Erwachsenensport-Experte und hauptberuflich Sportchef beim Militär ist, darf er keine Erwachsenensportleiter aus seinem Gym zertifizieren. Der Grund ist so simpel wie unverständlich. «Thaiboxen ist nicht olympisch. Es gibt auch keine Subventionen vom Bund, dabei werden in unserem Sport enorme Höchstleistungen erbracht.» Kickboxen und Muay Thai haben zwar Gemeinsamkeiten, beinhalten aber trotzdem völlig unterschiedliche Regelwerke. So darf man im thailändischen Boxen beispielsweise mit den Knien und Ellenbögen zuschlagen, oder den Gegner im Clinche auf den Boden werfen. Das Aufstehen braucht irrsinnig viel Energie, was sich während des Kampfes negativ auf die Deckung auswirken kann. Im Kickboxen ist das Umwerfen sowie Knie- und Ellenbogenschläge nicht erlaubt.
Eine weitere Besonderheit im Muay Thai ist der Wai Kru. In Thailand, dem Ursprungsland von Muay Thai, ist der Wai Kru vor dem Kampf eines der wichtigsten Rituale. Übersetzt bedeuten die beiden Wörter Dank und Segnung. Mit dem Ritual wird der tiefe Respekt den Lehrern, Trainern, dem Gym und der Familie zum Ausdruck gebracht. Ohne Wai Kru gibt es keinen Kampf im Muay Thai. Diesen Tanz beherrscht Amélie perfekt. Sollte ein Wettkampf unentschieden ausgehen, kann das Kampfgericht den Sieg an denjenigen vergeben, der den besseren Tanz aufgeführt hat, der übrigens extrem anspruchsvoll ist und dessen Figuren bestimmte Bedeutungen haben. Die KämpferInnen tragen den Mongkol, eine Art Stirnband, und die Prajeats welche, bei bestandener Khan Prüfung, vom Lehrer verliehen werden. Diese Bänder werden gesegnet und sollen im Kampf vor Verletzungen schützen und Erfolg bringen. Aurelio, der ein Faible für den Buddhismus entwickelt hat, gibt bei der Segnung Liebe und positive Energie mit auf den Weg.
«Kampfsport ist ein Teil meines Lebens»
Im Gespräch mit Amélie beeindruckt die Bescheidenheit. Sie betreibt den Sport mit Leidenschaft und Ernsthaftigkeit und meistert das alles neben der Schule. Vor der WM hat sie sechs Tage die Woche trainiert. Im Moment durchschnittlich dreimal in der Woche. «Die Schule ist genauso wichtig, deshalb versuch ich im Training so viel wie möglich reinzupacken.» Ein grosser Teil des Kampfsports findet auf mentaler Ebene statt. «Man muss wirklich bei sich bleiben. Atemtechniken helfen mir, Nervosität abzubauen und wieder ein bisschen runterzufahren.» Für Amélie ist Thaiboxen der perfekte Ausgleich zum Alltag. «Es ist ein Teil von meinem Leben. Es ist nicht nur das Thaiboxen, sondern da steckt viel mentale Arbeit mit drin.» Ihr Traum wäre es, in Thailand einmal zu kämpfen, oder von einem Meister unterrichtet zu werden. Ihrem Vater macht sie im Training auf jeden Fall schon mal das Leben schwer. «Im Training ist er nicht mehr mein Papa, sondern mein Lehrer. Dann muss ich gehorchen und wenn er will, dass wir gegeneinander kämpfen, dann mach ich das. Danach sind wir wieder Vater und Tochter.»