«Wenn Zofingen etwas vorschlägt, heisst es als Erstes: ‹Was wollen die jetzt wieder?›»
Fast vier Jahre lang hat der Historiker Markus Widmer-Dean an seinem neuen Buch, der «Stadtgeschichte Aarburg», gearbeitet. Jetzt liegt das umfangreiche, 352 Seiten starke Werk vor. Der erfahrene Historiker, der bereits Dutzende von Ortsgeschichten verfasst hat, war diese Woche Gast im zt Talk.
Was macht die DNA Aarburgs, den ganz besonderen Charakter des Städtlis aus? «Aarburg bedeutet Verschiedenes: das ehemalige Amt Aarburg, die Stadt Aarburg und die Festung Aarburg. Drei verschiedene Dinge, die gleich heissen», so Widmer-Dean. Erstaunlich sei, dass das Städtli unter dem Druck dieses Umfeldes und unter der Einbindung in die Herrschaft immer ein relativ eigenständiges Leben entwickeln konnte. «Es konnte sich auch gegen den Landvogt durchsetzen, der 100 Meter weiter oben war.» Ausserdem sei die Lage wunderbar: «Wenn man davor steht, muss man nicht fragen, was besonders daran ist.»
Immer wieder begegnet sind ihm bei seinen Recherchen die Spannungen und Animositäten zwischen der Stadt Zofingen und dem Städtli. «Auf diesen Sachverhalt stösst man immer wieder. Er ist so alt wie Aarburg selbst», sagt er. Zofingen sei als Stadt ungefähr ein Jahrhundert älter als Aarburg. «Das Umfeld war stark von Zofingen abhängig, auch wirtschaftlich.» Als die Habsburger Aarburg in den 1320er-Jahren erbauten, wurde das Städtli Zofingen quasi vor die Nase gesetzt. Aarburg lag an einer wichtigen Verkehrsroute, und nicht alles konnte man in der Burg abwickeln. «Das Städtli wurde so etwas wie die gute Stube.» Als Vorort der Herrschaft sei automatisch ein Spannungsverhältnis entstanden. Und: Zofingen sei grösser, reicher und im Handel aktiver gewesen – in Aarburg entstand das Gefühl, die Nachbarstadt blicke auf das Städtli hinunter. Sobald es in einem Bereich kleine rechtliche Verletzungen gab, wurde umgehend prozessiert. «Man rannte sofort zum Landvogt.»
Als im 19. Jahrhundert die Bezirke gegründet wurden, hat Aarburg intensiv versucht, den Zuschlag als Bezirkshauptort zu erhalten. «Zofingen war einfach besser vernetzt, auch politisch.» Die Aarburgerinnen und Aarburger wurden stärker von Zofingen abhängig. «Das nährte die Animositäten.» Diese verdichteten sich schliesslich zu einem kollektiven Gedächtnis. «Dann ist es einfach so. Wenn Zofingen etwas vorschlägt, heisst es als Erstes: ‹Was wollen die jetzt wieder?›» Die Spannungen schwächten sie heute aber ab, sagt Widmer-Dean. Der Grund: Die Ortsbürgerkultur sei auf dem Rückzug – «und die Ortsbürgerinnen und Ortsbürger sind die Träger des kollektiven Gedächtnisses».
Zur Person
Markus Widmer-Dean (1962) ist Historiker (Allgemeine Geschichte, Schweizer Geschichte des Mittelalters, Sprachgeschichte) und Verfasser verschiedener aargauischer Ortsgeschichten und anderer geschichtswissenschaftlicher Darstellungen. Er stammt aus Gränichen und lebt als freischaffender Historiker und Verleger in Menziken.
Der Historiker nennt weitere Beispielse, die das kollektive Gedächtnis Aaburgs formten. Historische Begebenheiten, die die Aarburger störten, wurden den Nachkommen weitererzählt. Ein Beispiel war der Bau der Hauptstrasse von Zürich nach Bern; den Zofingern gelang es, diese auf ihre Seite zu verlegen. «Vor allem, weil sie mehr Geld hatten.» Für die Aarburg bedeutete diese Verlegung eine Einschränkung der wirtschaftlichen Möglichkeiten. Ein weiteres Ereignis, das lange im kollektiven Gedächtnis haften blieb, war die Hungersnot in den 1770er-Jahren. «Der Landvogt entschied, dass für die Bevölkerung Brot gebacken werden müsse.» Auf dem Land gab es keine Bäckereien, in Aarburg nur zwei kleine für den lokalen Bedarf. «In Zofingen aber gab es eine grössere Anzahl Bäckereien.» Diese erklärten sich sofort bereit, den Auftrag zu übernehmen. Weil Zofingen damals nicht direkt zum Amt Aarburg gehörte und dieses deshalb quasi von aussen beliefert worden wäre, haben sich Aarburger beim Landvogt mit Erfolg dagegen gewehrt. «Auch das nährte die Spannungen. Aber man wollte die eigenen Interessen verteidigen.»
Wohin würde er reisen, wenn er mit einer Zeitmaschine in die Vergangenheit Aarburgs zurückreisen könnte? «Mein erstes Ziel wären die 1320er-Jahre», sagt er. Wir wissen, dass in diesem Jahrzehnt das Städtli gebaut wurde. Aber wir wissen nicht genau, wann und wie es ausgesehen hat. Ich würde also gerne nach ungefähr 1325 reisen, um zu sehen, wie Aarburg damals aussah. Vielleicht könnte ich dann auch den Burggrafen Johannes Kriech kennenlernen, der seine Wurzeln in Österreich hatte.» – «Historiker machen ja immer Zeitreisen – aber solche, bei denen ein Auge zugeklebt ist. Man sieht nie etwas scharf. Könnte man selbst dabei sein, dann sähe man es scharf.»
Das Buch
Die neue «Stadtgeschichte Aarburgs» von Markus Widmer-Dean erscheint offiziell am kommenden Samstag mit der Buchvernissage um 14 Uhr im «Bären»-Saal. Das 352 Seiten starke, reich illustrierte Werk wird für 30 Franken erhältlich sein.