Denis G. Humbert im zt Talk: «Ich verstehe den Unmut in der Bevölkerung sehr gut»
In der Schweiz wird seit einigen Monaten heftig über die Löhne debattiert. Die Inflation frisst einen Teil der Saläre weg, das befeuert die Diskussion um Mindestlöhne. Am letzten Wochenende haben Zürich und Winterthur Mindestlohn-Vorlagen deutlich zugestimmt. Aber was ist ein gerechter Lohn genau? Denis G. Humbert ist als Arbeitsrechtler seit Jahrzehnten mit dem Thema konfrontiert – und er hat sich in Fachartikeln und Referaten mit dem Thema auseinandergesetzt.
Was ist das, ein gerechter Lohn? «Es gibt juristische, philosophische und ökonomische Kriterien – spannend ist auch, was die Kirche dazu sagt», so Humbert. So hat sich beispielsweise Papst Leo XIII. 1891 in der Enzyklika Rerum Novarum der Frage der Lohngerechtigkeit gewidmet. «Leo sagte, der Lohn müsse das Existenzminimum gewährleisten. Heute reicht das als Erklärung natürlich nicht mehr.»
Heute operieren die Wirtschaftswissenschaften mit dem Instrument der Teilgerechtigkeiten, um die Frage der Lohngerechtigkeit zu beantworten. «Die wichtigste ist die Leistungsgerechtigkeit», sagt Humbert. «Wer viel arbeitet, soll entsprechend entlöhnt werden.» Aussendienst-Mitarbeitende beispielsweise, die für besonders viele Abschlüsse sorgen, haben ein Anrecht auf Provision. Ein weiteres Kriterium ist die Marktgerechtigkeit: «Fussballerlöhne sind zwar exorbitant hoch – aber der Markt zahlt es einfach, weil Fussballer den Clubs entsprechend viel Geld bringen.» Ein anderes Beispiel sind Köche, von denen es viel zu wenige gibt. «Mir hat ein St. Moritzer Gastronom erzählt, dass er einem Koch, der die Lehre abgeschlossen hat, einen Einstiegslohn von 6000 Franken zahlt.» Dann gibt es die Anforderungsgerechtigkeit. «Nehmen wir den Chirurgen. Chirurgische Eingriffe sind anspruchsvoll, die Anforderungen sind hoch – also zahlt man Chirurgen entsprechende Löhne.» Es gebe auch Jobs, bei denen die Anforderungsgerechtigkeit nicht korrekt spiele: «Flight Attendants haben einen Einstiegslohn von rund 3200 bis 3400 Franken. Sie müssen aber mehrere Fremdsprachen können und ein gutes Auftreten haben – hohe Anforderungen also.» Schliesslich gibt es die Sozial- und Bedarfsgerechtigkeit: «Dieses Kriterium verlangt – wie es Leo XIII. sagte –, dass ein Lohn zumindest den Lebensbedarf decken muss.»
Zur Person
Dr. Denis G. Humbert (1962) studierte an der Universität Zürich Rechtswissenschaft. Er erwarb 1994 das Anwaltspatent und 2008 den Fachanwaltstitel im Arbeitsrecht. Er ist er Partner bei der Zürcher Anwaltskanzlei Humbert Heinzen Hischier, einer der führenden Adressen in der Schweiz für Fragen rund um das Arbeitsrecht. Humbert ist zudem Co-Präsident des Vereins Zürcher Tierschutz. Im Frühling erschien im Schwabe-Verlag sein Buch «Lebensfragen», das sich mit grundsätzlichen Themen wie Zeit, Alter, Schicksal und Tod auseinandersetzt. Er ist verheiratet, Vater von zwei erwachsenen Söhnen und lebt in Thalwil.
Am anderen Ende der Gerechtigkeitsskala stehen die exorbitant hohen Saläre und Boni mancher Wirtschaftsbosse. «Ich bin gegen eine Lohn-Obergrenze, weil wir in einem liberalen, freien Markt leben», sagt Humbert. «Allerdings: Manche Boni-Exzesse sind eine Sauerei. Was sich die Mitglieder der CS-Konzernleitung geleistet haben, ist inakzeptabel und moralisch verwerflich. Sich dermassen hohe Löhne auszahlen lassen und dann die ganze Bank an die Wand fahren – das geht nicht! Deshalb verstehe ich den Unmut in der Bevölkerung sehr gut.» Ist ein Salär von einer Million Franken für den Chef einer Krankenkasse gerecht? «Eine schwierige Frage; es ist schon sehr, sehr viel», meint Humbert. Auf staatlicher Ebene jedenfalls sei er für Lohn-Obergrenzen: «Es macht einen Unterschied, wenn wir als Steuerzahlende die staatlichen Löhne finanzieren. In der Privatwirtschaft sehen die Voraussetzungen anders aus.»