Der Rothirsch etabliert sich in der Region
Vordemwald Lucio Stanca über die Herausforderungen im Umgang mit Rotwild
Ein Rothirsch marschiert in Strengelbach seelenruhig – wie es scheint – einen Waldweg entlang. Ein überraschender und ungewohnter Schnappschuss war es, den ein Mitglied der Jagdgesellschaft Strengelbach am 4. Juli 2010 schiessen konnte. Das Bild des jungen Hirsches war in der Tat der erste fotografische Nachweis für einen freilebenden Rothirsch im Kanton Aargau. «Ist der Rothirsch seither zurück in unserer Region?» Die Frage richtet sich an Lucio Stanca. Der 45-jährige, in Vordemwald wohnhafte Stanca, beruflich als Altersheimleiter in Muhen tätig, befasst sich seit seiner Jugendzeit ausführlich mit Jagdthemen, ist selber seit 23 Jahren Jäger und seit 12 Jahren Pächter der Jagdgesellschaft Vordemwald.
Tatsächlich lässt sich seit 2010 ein vermehrtes Eindringen des Rothirsches in den Kanton Aargau feststellen. Die meisten Rothirsche wurden damals im Bezirk Zofingen, vor allem in den Gemeinden Murgenthal und Vordemwald, nachgewiesen. «Es waren ausschliesslich männliche Hirsche, die in diesem Zeitraum aus dem Berner Längwald in unser Gebiet vordrangen», sagt Stanca, es war kein Kahlwild (weibliches Rotwild) da. Deshalb verschwanden die Hirsche jeweils im September, zur Brunftzeit, auch wieder aus dem Gebiet.
2010 erfolgte ein Umdenken im Umgang mit dem Rothirsch
Wenn man verstehen wolle, wieso das Rotwild gerade in diesem Zeitraum wieder in unserer Region gesichtet werden konnte, so müsse man zuerst über das Wald-/Wildkonzept des Bundes reden, führt der Vordemwalder Jäger aus. «Denn 2010 hat sich ein kleines Erdbeben ereignet», betont Stanca. Bis 2010 gab es in der Schweiz einerseits klar bestimmte Zonen, in denen Rotwild akzeptiert wurde, andererseits Rotwild-freie Zonen. «Tauchte ein Rothirsch in einer Rotwild-freien Zone auf, war er automatisch zum Abschuss freigegeben». Mit dem vom Bundesamt für Umwelt (BAFU) herausgegebenen, neuen Wald-/Wildkonzept von 2010 setzte sich die Vorstellung, dass ein Zusammenleben mit dem Rothirsch auch im Mittelland möglich sei, durch. «Der Rothirsch sollte selber bestimmen, wo er seinen Lebensraum suchen möchte», bringt es Stanca auf den Punkt. Als Konsequenz davon war Rotwild ab sofort unter Schutz gestellt. Auf einen kurzen Nenner gebracht: Vom freien Abschuss zum kompletten Schutz.
Kanton Aargau hat sehr gut reagiert
Durch dieses abrupte Umdenken im Umgang mit Rotwild sei zu Beginn sicher eine gewisse Überforderung da gewesen, stellt Lucio Stanca im Rückblick fest. «Wie soll man mit dem Rotwild umgehen?», sei die Fragestellung gewesen, der sich die betroffenen Interessengruppen wie Jagd, Forst und Landwirtschaft, in letzter Instanz aber auch die Bevölkerung stellen musste und fortlaufend stellen muss. Der Kanton Aargau hat die Herausforderung angenommen und in kurzer Zeit einen Massnahmenplan erarbeitet. Er sah vor, die natürliche Wiederbesiedlung des Rotwilds im Kanton zuzulassen, wobei allerdings die jeweilige Bestandesgrösse dem vorhandenen Lebensraum angepasst werden sollte. Mit dem Ziel, einerseits die waldbauliche Entwicklung nicht zu gefährden und andererseits Wildschäden zu vermeiden.
«Der Massnahmenplan hat dazu geführt, dass wir hier – wie an anderen Orten auch – einen Rotwild-Hegering gegründet haben», sagt Stanca. Dem Rotwild-Hegering 1 gehören die Reviere Brittnau, Murgenthal, Rothrist, Strengelbach und Vordemwald an, er umfasst Vertreter von Jagdrevieren, Forst und Kanton. Situativ werden auch Experten zugezogen, wenn ein Thema genauer besprochen werden soll. Seit rund zehn Jahren tauschen sich die Mitglieder des Hegerings regelmässig aus, was Bestände und Verbiss betrifft und besuchen auch Weiterbildungen. Die Zusammenarbeit funktioniert sehr gut: «Wir haben eine gemeinsame Sprache gefunden», betont Stanca. Aktuell sei in den Wäldern der Region der Verbiss zwar sichtbar, für den Forst bewege er sich aber in tragbarem Rahmen, weil er vor allem bei Weichhölzern wie Erle, Weide oder Holunder festzustellen sei.
Rotwild bewegt sich in einem Raum von rund 60´000 Hektaren
Es sei aber sehr schwierig, den Rotwildbestand genauer zu beziffern, betont Stanca. Erstens sei der Bestand sicher jahresabhängig, zweitens bewege sich ein Rothirsch in einem Raum von rund 60´000 Hektaren, was nicht ganz der halben Fläche des Kantons Aargau entspricht. Das hat auch ein Forschungsprojekt der Hochschule für Agrar-, Forst- und Lebensmittelwissenschaften unter der Leitung von Christian Willisch bestätigt. Im Rahmen des Projekts «Rothirsch im Schweizer Mitteland» sollte konkret geklärt werden, welche Lebensräume von Rothirschen im Mittelland genutzt werden. Dazu wurden im Mittelland in den Jahren 2020 bis 2022 freilebende Rothirsche eingefangen und mit GPS-Halsbändern versehen. Der erste Rothirsch, der im Rahmen des Projekts im Wildraum 1 mit einem Sender versehen wurde, wurde in Vordemwald eingefangen. «Nach seiner Entlassung in die Freiheit wanderte Rothirsch ‹Foro› in einem Zug direkt ins Entlebuch», weiss Lucio Stanca und der Hirsch sei erst zwei Jahre danach wieder in die Region zurückgekehrt und wiederum später verendet in Roggliswil aufgefunden worden.
Hirschjagd ist herausfordernd
Der grosse Lebensraum eines Rothirsches macht auch die Hirschjagd zu einer Herausforderung. Deshalb hat der Kanton Aargau in seinem Massnahmenplan auch festgelegt, dass die Rotwildjagd revierübergreifend geplant werden muss. Erschwerend kommt hinzu, dass der Rothirsch ein äusserst scheues und auch schlaues Tier ist. «Ich bin überzeugt, dass das Rotwild ein sehr sensibles Wild ist und über eine Art Alarmsystem verfügt», sagt der erfahrene Vordemwalder Jäger. So hat er schon die Beobachtung gemacht, dass sich Rotwild, welches sich vor Jagdbeginn beobachtet fühlt, sofort in Naturschutz- oder Jagdbanngebiete, das sind Gebiete, in denen nicht gejagt werden darf, zurückzieht.
Nachdem in einer ersten Phase in den Jahren von 2010 bis etwa 2015 nur Hirschmännchen ins Gebiet kamen, welche in der Brunftzeit wieder verschwanden, liessen sich in einer zweiten Phase zwischen 2016 und 2018 auch Hirschweibchen (Alttiere) beobachten, die aber im September ebenfalls die Brunftplätze aufsuchten. In der dritten Phase ab 2019 liess sich eine Rudelbildung beobachten, das Rotwild blieb in der Gegend. «Der Rothirsch beginnt sich in der Region zu etablieren», führt Stanca aus. Nach den Beobachtungen, welche im Hegering 1 gemacht worden sind, wird von einem geschätzten Bestand von aktuell rund 30 Rothirschen ausgegangen. Seit 2019 wird der Hirsch auch in der Region wieder gejagt, aktuell sind 10 Stück Rotwild zum Abschuss freigegeben. «Der Entscheid, den Hirsch zu jagen, ist richtig», ist sich Stanca sicher, der Rotwild-Bestand nehme trotz Jagd kontinuierlich zu. Denn es gelte auch zu bedenken, dass der Hirsch auch eine Konkurrenz zum Reh sei und es eine Balance zwischen Rotwild und Rehwild geben müsse. Auch wenn immer noch verlässliche Angaben dazu fehlen, wieviele Rothirsche in den Raum passen und wie gross die Schäden sein werden, so findet es Stanca grundsätzlich einfach grossartig, «dass eine so grosse Tierart nach 200 Jahren wieder in unseren Lebensraum zurückkehren konnte», nachdem sie in der Schweiz zwischenzeitlich sogar ganz ausgerottet war.
Autofahrer sollten Tempo in Waldpassagen anpassen
Und was macht der Mensch mit dem Hirsch? Stanca schmunzelt. Er gehe davon aus, dass es im Wald kaum Spaziergänger gebe, die einen Hirsch zu Gesicht bekommen würden. Denn der «König der Wälder» sei ein äusserst scheues Tier, das bockstill stehen bleibe, sobald er einen Menschen erblicke. Und falls man den Hirsch doch einmal sieht, so solle man auf jeden Fall einfach weitergehen und dabei laut sprechen. «Dann fühlt sich der Hirsch nicht gestresst», betont Stanca. Anders sei die Ausgangslage für den Autoverkehr. «Wenn man mit 80 Stundenkilometern in einen Hirsch fährt, dann wird es lebensgefährlich. Für die Autoinsassen». Deshalb würde er Autofahrern besonders in Waldpassagen empfehlen, ihr Tempo anzupassen.