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Selbständigkeit ist ihm wichtig

Momentan hat Michael praktisch keine Wünsche offen in seinem Leben. Der 36-Jährige ist seit Geburt blind, arbeitet in der Borna hauptsächlich als Bürstenmacher und lebt seit einem Jahr erstmals alleine in einer Wohnung – fast ohne Hilfe.

Rothrist Michael ist blind und lebt seit drei Jahren in der Borna

Vor drei Jahren ist Michael – seinen Nachnamen möchte er nicht erwähnt haben – nach Rothrist in die Borna gezogen. Der 36-Jährige ist blind. Er kann nur hell und dunkel wahrnehmen, weil sein Augenlicht bei der (Früh-)Geburt geschädigt wurde. Doch seit dem Umzug hat Michael riesige Schritte in seinem Leben gemacht. Beruflich und privat. «Michael hat eine starken Willen und weiss ganz genau, was er will», bestätigt denn auch Joena Parkinson, die als Leiterin der Fachstelle für Sehbehinderte und Blinde in der Borna eine wichtige Bezugsperson für Michael ist. 

Vom Sesselflechter zum Bürstenmacher

«Nach Rothrist bin ich gekommen, weil es mir in Bern nicht mehr gefallen hat», sagt Michael. In einer ähnlich ausgerichteten Organisation wie es die Borna ist, hat er dort 15 Jahre lang als Sesselflechter gearbeitet. «Eine schöne Arbeit, doch ich wollte auch einmal etwas Neues kennenlernen», nennt er den Beweggrund für seine berufliche Neuorientierung. In der Bürstenmacherei sei er gut aufgenommen worden, führt er weiter aus, das Handwerk zu erlernen, sei aber nicht nur einfach gewesen. Draht durch das Bürstenloch einziehen, Draht schlaufen, Bürstenbündel abteilen und in die Schlaufe einlegen, dieses in der Mitte halbieren, einziehen und dann festziehen – an diese Arbeitsschritte hat sich Michael im wahrsten Sinn des Wortes herantasten müssen. «Die Einführung ins Handwerk hat bei mir sicher ein wenig mehr Zeit erfordert als bei einem sehenden Menschen», betont Michael, aber er hätte sich gewehrt, wenn man ihm diese Zeit nicht gegeben hätte. Ob Handwischer, Bodenwischer, Schrubber oder Industriebürste, Michael fertigt seit seiner Ausbildung zum Bürstenbinder alle Arten von Besen, ausser Tellerbesen, die bei Strassenputzmaschinen zum Einsatz kommen. «Dafür fehlt mir die notwendige Kraft», sagt er. Ihm gefalle das Handwerk sehr, «auch wenn man sich beim Einziehen des Drahts ganz schön stechen kann», sagt er lachend.

Regelmässig wird Michael aber auch extern eingesetzt. Jeweils am Dienstag, Mittwoch und Donnerstag ist er in Wynau, wo er bei einem Textildienstleister schmutzige Berufskleider verpackt, die in Reinigung gehen. In der Borna selber hilft er momentan in der Konfektionierung aus, weil ein Grossauftrag eines Detailhändlers erledigt werden muss. Dort «weihnächtelet» es bereits ein wenig, muss doch Weihnachtsbaum-Schmuck aus Schokolade in Säcke verpackt werden. 

Erstmals in den eigenen vier Wänden

Während die berufliche Neuorientierung bei Michael geglückt ist, ist sein Wohnprojekt noch nicht ganz abgeschlossen. «Vor einiger Zeit hat Michael den Wunsch geäussert, dass er in einer eigenen Wohnung leben möchte, wenn die Borna ab Frühling 2023 umgebaut wird», führt Joena Parkinson aus. Sie habe dann den Anstoss gegeben, dieses Projekt früher umzusetzen. Dabei sei von der Fachstelle her ein entsprechendes Training aufgegleist worden, das «in Michaels Fall einfacher war, weil er sehr viele Kompetenzen bereits von zu Hause mitbrachte». Seit einem Jahr wohnt Michael nun in einer kleinen 2 1/2-Zimmerwohnung beim Bahnhof. Er selber hat sich zum Ziel gesetzt, nach einem halben Jahr völlig selbständig unterwegs zu sein. «Die Zeit hat nicht gereicht», muss er sich eingestehen, «alleine Putzen geht ganz ordentlich, doch das ochen macht noch Mühe», auch wenn er spezielle Hilfsmittel wie eine sprechende Waage, einen Gemüseschneider mit Schneidschutz oder einen taktilen Massbecher einsetzen kann. Entsprechend froh ist er, dass er bei Bedarf weiterhin Hilfe vom Betreuungsteam, welches für die Liegenschaften Breitenpark und Bahnhof zuständig ist, in Anspruch nehmen darf. Hilfe, auf die er nicht nur beim Kochen angewiesen ist, sondern auch beim Einkauf. «Den Einkauf werde ich nie selbständig erledigen können, dort bin ich chancenlos», betont er.

Die Zusammenarbeit mit Sehbehinderten empfindet Joena Parkinson, als vielfältig und spannend. «Sie verändert in erster Linie den Blickwinkel», führt die 32-Jährige aus, sei doch unsere Gesellschaft zu etwa 90 Prozent visuell orientiert. «Wenn man mit Sehbehinderten arbeitet, merkt man, dass man plötzlich ganz anders hinschauen muss». Dabei sei ihr in ihrer Arbeit wichtig, dass Sehbehinderte gleichwertig informiert würden. «Das funktioniert ausschliesslich über Gespräche, die in der Borna für sämtlichen Sehbehinderte und Blinde alle zwei Monate angesetzt sind», betont sie. Die Sitzung , bei der aktuelle Themen und Anliegen aufgenommen werden, wird Blitzsitzung genannt.

Hilfsbereitschaft hat eher abgenommen

Seine Eltern, die in Zollikofen wohnen, besucht Michael regelmässig. Selbständig. «Wenn ich die Wege eingeübt habe, ist das kein Problem», betont er. Eng werde es nur, wenn die Zeiten beim Umsteigen von Zug zu Zug knapp bemessen seien. «Dann bin ich auf Hilfe angewiesen», meint er. Die Bereitschaft, Leuten mit Sehbehinderungen beizustehen, habe während der Corona-Zeit leider spürbar abgenommen. «Die Leute sind eher weg- oder vorbeigelaufen», führt er aus. Schwierig sei es manchmal auch, wenn er auf der Strasse unterwegs sei, vor allem wenn es viel Verkehr habe. Es gebe immer wieder Autofahrer, die trotz des weissen Stocks nicht anhalten würden, wenn er eine Strasse überqueren wolle. «Mehr Rücksichtnahme wäre da angebracht», fordert er unmissverständlich. In solchen Situationen sei er stark auf sein Gehör angewiesen. Ein Gehör, das besser ausgebildet ist als bei Sehenden? Joena Parkinson und Michael lachen gemeinsam. «Jetzt sind wir bei den häufigsten Fragen, die Sehbehinderten jeweils gestellt werden, angelangt», sagt Joena Parkinson. Und meistens möchten Sehende auch noch wissen, wie Blinde träumen… «Also, das Gehör ist einfach besser trainiert», sagt sie dann. Und statt nach Träumen von Michael zu fragen bleiben wir lieber bei seinen Wünschen. «Ich fühle mich momentan richtig zufrieden mit meinen Leben und möchte deshalb auch nicht viel verändern», sagt er abschliessend.

Eingespielt: Joena Parkinson begleitet Michael durch den Park.
Bild: Thomas Fürst

Statistisches

In der Schweiz gibt es keine präzise Statistik über Seh- und Hörsehbehinderungen. Gesundheitsangaben sind Privatsache, ausser man beantragt finanzielle Leistungen für Heilungskosten, Hilfsmittel oder eine Rente. Der Schweizerische Zentralverein für das Blindenwesen (SZBlind) hat aber alle verfügbaren Angaben zusammengetragen und berechnet die Zahl der in der Schweiz lebenden sehbehinderten und blinden Personen auf etwa 377´000. Diese sind in den verschiedenen Altersgruppen unterschiedlich stark vertreten: 3,3 Prozent aller Personen bis 40 Jahre sind sehbehindert oder blind, bei den 40- bis 59-Jährigen beträgt der Anteil 2,5 Prozent, bei den 60- bis 79-Jährigen 7,3 Prozent und bei den über 80-Jährigen 28,8 Prozent. Eine gewisse altersbedingte Abnahme des Sehpotenzials entspricht einem natürlichen Verlauf.